L. Fasol: Stadtgestalt und Stadtgesellschaft

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Titel
Stadtgestalt und Stadtgesellschaft. Identitätskonstruktionen in Winterthur, Luzern und Bern um 1900


Autor(en)
Fasol, Laura
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
ca. €48
von
Verena Rothenbühler

An Schweizer Universitäten ist Stadtgeschichte kein Schwerpunktthema. Sie geniesst in der aktuellen Forschungslandschaft nicht viel Aufmerksamkeit und wird den freiberuflichen Historikerinnen und Historikern überlassen. Es ist deshalb sehr erfreulich, dass sich Laura Fasol in ihrer 2017 an der Universität Luzern bei Jon Mathieu eingereichten Dissertation der Urban History angenommen hat. In ihrer flüssig geschriebenen und gut lesbaren Studie geht sie den Fragen nach, wie der Prozess der Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Wahrnehmung, die Darstellung von Städten und die Konstruktion von Stadtidentitäten beeinflusst hat und wie umgekehrt solche Selbstdarstellungen die Stadtgestalt und die Stadtgesellschaft geprägt haben.

Im Unterschied zu den Arbeiten von Bruno Fritzsche und François Walter, die in den 1980er- und 1990er-Jahren das Phänomen Stadt mit sozial- und wirtschaftshistorischen Fragestellungen untersucht haben, wählt Fasol einen kulturhistorischen und mentalitätsgeschichtlichen Ansatz. Anhand von Winterthur, Luzern und Bern geht die Autorin den «Repräsentationen von Stadt», den «Bildern und Vorstellungen über die Stadt» und den «Strategien zur Identifikation und Identitätsbildung» nach. Die ausgewählten Fallbeispiele eignen sich für eine vergleichende Untersuchung, da sie sich – das ist keine Überraschung – um 1900 durch unterschiedliche Charakteristika auszeichnen: Winterthur ist eine Industriestadt, Luzern, eine vom internationalen Tourismus geprägte Ortschaft und Bern eine Verwaltungs- und Dienstleistungsstadt. Diese Städte waren, wie auch andere Zentren in der Schweiz, nach der Schleifung ihrer Stadtmauern und dem Aufbruch der kompakten Stadtkörper gleichermassen gefordert, sich mit dem zum Teil rasanten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und städtebaulichen Wandel ein neues Selbstbild zu geben. François Walter hat in seiner Studie La Suisse urbaine 1750–1950 (1994) bereits auf die Repräsentation als lohnende Frage der Stadtgeschichte aufmerksam gemacht. Welche Ideen und Bilder, welche Wünsche und Gefühle haben die Stadtbewohnerinnen und -bewohner angesichts der Umwälzungen des vertrauten Raums empfunden? Wie haben die verschiedenen gesellschaftlichen Akteure die Stadt gesehen?

Für die Untersuchung der städtischen Identitätskonstruktionen verwendet Fasol zeitgenössische Stadtführer, Reiseführer, Festschriften, heimatkundliche Publikationen, aber auch visuelle Quellen wie Stadtveduten und Postkarten. Differenziert und minuziös arbeitet die Autorin heraus, dass in den Selbstbildern und Images von Winterthur, Luzern und Bern, auf je eigene Weise, die Geschichte, die Moderne und die Natur eine zentrale Funktion einnehmen. Winterthur präsentiert sich um 1900 als moderne, fleissige und prosperierende Industriestadt. Die negativen Seiten der Industrie, Schmutz, Lärm, Gestank, aber auch Kommunismus und Klassenkampf, werden in der durchgrünten Gartenstadt, eingebettet in eine liebliche Landschaft, aufgehoben und neutralisiert. Die für die Identität der Eulachstadt konstitutive und positiv besetzte Industrie machen besonders die Bildquellen deutlich. Im Zentrum des Stadtbilds steht die Fabrikstadt, die mit rauchenden Hochkaminen und dampfenden Lokomotiven charakterisiert wird. Während die Selbstdarstellung Winterthurs vor allem gegen innen gerichtet ist und der Selbstvergewisserung des städtischen Bürgertums diente, adressiert sich das Selbstbild von Luzern primär nach aussen. Für ihr Image, das ein internationales und wohlhabendes Publikum in die Stadt locken sollte, war die Natur, die Bergkulisse, zentral. Aufschlussreich sind auch in diesem Fall die visuellen Quellen, die zeigen, wie die Stadt im 19. Jahrhundert als Amphitheater des Naturgenusses in einer See- und Berglandschaft dargestellt wird. War für Winterthur die moderne Industrie der diskursive Rahmen innerhalb dessen über die Stadt gesprochen wurde, bildet der Tourismus diesen für Luzern. Selbst die Kritik an der Tourismusindustrie, an den Arbeitsbedingungen in der Tourismusbranche und die Verdrängung der Bevölkerung aus den für die Touristinnen und Touristen attraktiven Stadtquartieren, reproduzierte das Image Luzerns und konnte die Selbstdarstellung der Stadt im Kern nicht beeinflussen. In der Bundesstadt war hingegen kein Wirtschaftszweig vorherrschend. In Bern gab es – im Gegensatz zu Winterthur und Luzern – auch kein dominantes Narrativ, das den Bezugsrahmen des Redens über die Stadt bildete. Die Uneinigkeit bezüglich der Stadtidentität zeigt Fasol sehr schön am auffällig raschen Wechsel der Titelbilder des ab 1890 erscheinenden Bernischen Fremdenblattes. Die Aarestadt präsentierte verschiedene Gesichter. Sie charakterisierte sich als regionales Zentrum und Bauernstadt, als von Bundesbauten geprägte Hauptstadt oder als «heimelige» Altstadt mit breiten von Lauben eingefassten Strassen. Ein Charakteristikum Berns, das in den visuellen Darstellungen im 19. Jahrhundert jedoch zur Konstanten wird, ist die schöne Natur, genauer die Alpen und die Aussicht auf die Berge.

Referenzpunkt für die Selbstdarstellungen der drei Städte war die europäische Grossstadt des 19. Jahrhunderts. Vor allem von deren negativen Seiten grenzten sich Winterthur und Bern ab. Obwohl es in der Schweiz keine Stadt gab, die einem Grossstadtmoloch gleichkam, sorgten der Verstädterungsschub und die soziale Segregation, die extrem unterschiedliche Lebenswelten entstehen liessen, auch in den Schweizer Städten für gesellschaftlichen Zündstoff. Vor diesem Hintergrund bekommen die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kreierten Stadtidentitäten nicht zuletzt auch die Funktion, die sozial und kulturell heterogene Bevölkerung in den modernen Stadtkörper zu integrieren.

Zitierweise:
Rothenbühler, Verena: Rezension zu: Fasol, Laura: Stadtgestalt und Stadtgesellschaft. Identitätskonstruktionen in Winterthur, Luzern und Bern um 1900, Zürich 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 315-316. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.

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